Jiu-Jitsu

Was ist Jiu-Jitsu?

Jiu-Jitsu (auch geschrieben Jujitsu oder Jujutsu) ist die japanische Bezeichnung für eine in Japan entwickelte, schwerpunktmäßig waffenlose Selbstverteidigung mit dem Grundsatz der wirkungsvollsten Kraftanwendung. Jiu-Jitsu heißt „nachgiebige Kunst“ oder auch „Sanfte Kunst“ – „Jiu“ bedeutet Nachgeben oder Ausweichen, „Jitsu“ Kunst oder Kunstgriff. Zusammenfassend besagt dies, dass man die Kraft des Gegners nutzt, um diesen zu überwältigen.

In früherer Zeit war Jiu-Jitsu zentraler Bestandteil der Kampftechniken der Samurai. Jiu-Jitsu ist eine umfassende, vielen heute bekannten Budo-Sportarten historisch vorgelagerte Kampfkunst. Aus ihr hat sich eine Anzahl heute selbstständiger Kampfsportarten entwickelt, so u. a. Judo, Aikido und bestimmte Formen des Karate. Diese Kampfsportarten haben jeweils einen Teilbereich des Jiu-Jitsu herausgegriffen, besonders betont und weiterentwickelt, so dass sie in ihrer modernen Form kaum noch Gemeinsamkeiten aufweisen – alle drei kann man jedoch nach wie vor im Jiu-Jitsu wiederfinden.

Das Wesen des Jiu-Jitsu liegt seit jeher in der Abwehr aller Arten von Angriffen. Dies geschieht insbesondere mit Hilfe von Schlag- und Tritttechniken gegen vitale Punkte (Schwachstellen) des menschlichen Körpers (sog. „Atemi-Techniken“) sowie Wurf-, Hebel-, Würge- und Nervendruck-Techniken. Weiterhin sind Festlege- und Transporttechniken eines überwältigten Gegners, Falltechniken sowie auch persönlichkeitsbildende Elemente (z. B. der Bereich der Selbstbehauptung) zentrale Bestandteile des Jiu-Jitsu.

Das heutige, moderne Jiu-Jitsu unterscheidet sich vom klassischen vor allem durch den Einbezug moderner Selbstverteidigungsaspekte; dies drückt sich z. B. darin aus, dass gegenüber der Handhabe traditioneller japanischer Waffen (Tonfa, Sai, Hanbo, Bo, Katana, Tanto, Tessen etc.) nun eher die Abwehr gegen moderne Waffen (Messer, Stock, Pistole) trainiert wird. Das moderne Jiu-Jitsu ist eine gute Möglichkeit der Selbstverteidigung und vermittelt neben Geduld und Einfühlungsvermögen beim Umgang mit dem Partner auch das erforderliche Selbstbewusstsein für den Ernstfall. Auch Frauenselbstverteidigung und der sportliche Vergleich untereinander gehören zu dieser modernen Definition des Jiu-Jitsu.

Nach wie vor erhalten ist aber auch das angestrebte Ziel der traditionellen Kampfkunst Jiu-Jitsu: Die Kombination verschiedener Budo-Prinzipien zu einem eigenen, individuell geprägten, effektiven Stil des einzelnen Budoka, der in der Einheit von Körper und Geist Übungen vollzieht, die das innere Gleichgewicht ebenso spiegeln wie die Perfektion der Technik. Hierin unterscheidet sich Jiu-Jitsu wesentlich von allen anderen Budo-Stilen und leistungsorientierten Kampfsportarten.

Geschichtliche Entwicklung des Jiu-Jitsu

Den Ursprung der meisten Budo-Sportarten vermutet man in einer über 3000 Jahre alten indischen Massagekunst, der schon über 100 schmerz- und lebensempfindliche Stellen am menschlichen Körper bekannt waren. Die genauen historischen Ursprünge der Kampfkunst sind leider unbekannt.

Belegt ist, dass es bereits im 12. Jahrhundert eine japanische Schule für den Handkampf gegeben hat, die von Shinra Saburo gegründet wurde. Ebenso steht fest, dass schon die Samurai in früher Zeit waffenlose Kampfsysteme kannten, mit denen sie sich verteidigen konnten, wenn sie vom Pferd gefallen oder entwaffnet worden waren. Da das Sumo schon zur damaligen Zeit lange in Japan bekannt und verbreitet war, ist davon auszugehen, dass die Ringtechniken der Krieger in Rüstungen, die Kumiuchi genannt wurden, bereits gewisse Griffte beinhalteten, die später im Jiu-Jitsu auftauchten. Ein zentraler Impuls ging dann 1638 von einem Chinesen Namens Chin-Gen-Pin aus, der sich in Japan niederließ und dort Samurai in einer Art chinesischen Boxens unterrichtete. Diese Samurai verbanden die neuen Techniken mit den ihnen bereits bekannten und nannten es „Jiu-Jitsu“, die „nachgiebige Kunst“.

Jiu-Jitsu fand unter den Samurai rasche Verbreitung und wurde bereits Ende des 17. Jahrhunderts als eine der ersten Samurai-Pflichten im Bushido (Ehrenkodex der Samurai) festgelegt. Es wurde in einer zunehmenden Zahl von Schulen, die ihre speziellen Techniken jedoch geheim hielten, vermittelt. In Büchern und Schriftrollen waren die verschiedenen Techniken zwar beschrieben, diese Dokumente verblieben aber innerhalb der einzelnen Schulen und wurden immer nur dem jeweiligen Oberhaupt übergeben. Während der Tokugawa-Zeit gab es über 100 Schulen für Jiu-Jitsu. Aus diesem Umstand erklärt sich die große Vielfalt des Jiu-Jitsu. In Japan selbst wurde der Ausdruck Jiu-Jitsu zunehmend weniger geläufig als die unter diesem Sammelbegriff subsummierten traditionellen Schulen beziehungsweise Stilrichtungen, so z. B. Takeuchi, Tai Jitsu, Yoshin ryu, Shinyo ryu, Yawara, Aiki Jitsu der Daito ryu oder Hakko ryu.

Viele dieser Stile sind im Laufe des 20. Jahrhunderts auch nach Europa gekommen, die meisten erreichten uns jedoch erst nach dem 2. Weltkrieg. Jiu-Jitsu hat inzwischen eine weltweite Verbreitung gefunden. Das Weltzentrum für Jiu-Jitsu, die Nippon Seibukan Academy in Kyoto, Japan, wurde 1968 durch die UNESCO als B-Mitglied international anerkannt. Japanisches Jiu-Jitsu, wie es heute noch in den verschiedenen Stilformen überliefert wird, ist weit über seinen Selbstverteidigungswert hinaus ein Lebensstil von hoher Ethik, Ökonomie und Ästhetik. Wenngleich die Praxis einen sportlichen Aspekt hat, so ist Jiu-Jitsu nicht in erster Linie Sport.

Jiu-Jitsu in Deutschland

Erich Rahn demonstriert einen Armstreckhebel

Nach dem russisch-japanischen Krieg kamen 1903 zwei japanische Kreuzer zu einem Freundschaftsbesuch nach Kiel. Bei dieser Gelegenheit wurden asiatische Nahkampftechniken vorgeführt. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. gab Anweisungen, für diese Techniken, die „Jiu-Jitsu“ genannt wurden, einen Lehrer zu engagieren. Ono, Higashi, Tani, Uynichi und Mayaki kamen nach Deutschland und lehrten Jiu-Jitsu. Erich Rahn, bedeutendster Schüler dieser Japaner, gründete 1906 die erste deutsche Jiu-Jitsu Schule in Berlin, die noch heute existiert. Ab 1910 unterrichtete Rahn bei der Berliner Kriminalpolizei, kurze Zeit später auch an der Berliner Militär-Turnanstalt.

Während des 1. Weltkriegs ruhte Jiu-Jitsu vollkommen und wurde erst 1919 wieder aufgenommen. 1922 erhielt Erich Rahn an der Deutschen Hochschule für Leibeserziehung einen Lehrauftrag als Dozent für Jiu-Jitsu, die Anerkennung des Jiu-Jitsu in Deutschland machte Fortschritte. In Frankfurt a. M. und Wiesbaden eröffnete Alfred Rhode Jiu-Jitsu-Schulen. 1924 wurde der Jiu-Jitsu-Reichsverband gegründet. 1925 erschien die erste illustrierte Monatszeitschrift Jiu-Jitsu. 1930 wurde Jiu-Jitsu bereits in drei Verbänden gelehrt (Reichsverband für Jiu-Jitsu, Deutscher Athletik Sportverband, Arbeiter Sportkartell) und an den Universitäten Köln und Hamburg in das Programm der Leibesübungen aufgenommen.

1933 besuchte Prof. Jigoro Kano, der aus dem Jiu-Jitsu heraus (unter unter anderem durch Verbot aller „harten“ Stoß-, Schlag- und Tritt-Techniken) das Judo entwickelt hatte, mit einigen Begleitern Deutschland und stellte Judo als Leibeserziehungs- und vor allem Wettkampfsystem vor. Nach einem Gespräch zwischen Kano und dem damaligen Reichssportführer v. Tschammer wurde Judo amtlich in ganz Deutschland eingeführt. Kriegsbedingt stagnierte dann allerdings der gesamte Kampfsport und wurde auch nach dem Ende des 2. Weltkriegs durch die Alliierten zunächst verboten.Erst 1956 belebte sich das Kampfsportwesen in Deutschland wieder mit der Gründung des Deutschen Judobundes (DJB). Judo wurde als Leistungssport im DJB alsbald auch durch die öffentliche Hand intensiv gefördert. Eine enorme Abwanderung vom Jiu-Jitsu war die Folge. Jiu-Jitsu-Sportler schlossen sich vielfach Judo-Vereinen an, die ihren Wünschen nachkamen, dort Jiu-Jitsu zu trainieren, und bildeten so innerhalb des DJB eine Minderheit.

Trotz dieser Entwicklung erhielt sich jedoch auch im Jiu-Jitsu noch ein Verbandswesen. Mitte der sechziger Jahre gehörten zu den drei bekanntesten Jiu-Jitsu-Verbänden der Deutsche Jiu-Jitsu-Ring (DJJR), der Deutsche Verband für waffenlose Selbstverteidigung und der Deutsche Jiu-Jitsu Bund (DJJB), die einen stetigen Zulauf verzeichnen konnten. Diese Entwicklung im Jiu-Jitsu musste der DJB zwangsläufig mit Sorge betrachten. Es gab zwar innerhalb des DJB nach wie vor einen Bereich Jiu-Jitsu, doch war hier die Abwanderung in die jiu-jitsu-spezifischen Verbände besonders deutlich. So führte der DJB nach 5-jähriger Vorbereitungszeit eine Sparte für Selbstverteidigung unter dem Begriff „Ju-Jutsu“ ein. Tatsächlich wurden hier die für ein Selbstverteidigungssystem als wichtig erachteten Techniken aus verschiedenen Kampfsportarten herausgezogen und kombiniert, also ein vielseitiges technisches Repertoire, das prinzipiell im Jiu-Jitsu schon lange zuvor bereits existierte! Da der DJB in der Folge seine Zustimmung für eine auf Bundes- und Landesebene anerkannte, vollwertige und eigenständige Sektion Jiu-Jitsu versagte, gründeten Mitglieder der „Arbeitsgruppe Jiu-Jitsu im DJB“ aus Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein 1982 in Malente die „Deutsche Jiu-Jitsu-Union – Größter deutscher Fachverband für traditionelles Jiu-Jitsu e. V.“. 1990 spalteten sich dann auch die Ju-Jutsu-Treibenden vom DJB ab und gründeten einen eigenen Verband, den Deutschen Ju-Jutsu-Verband (DJJV); eine im Jahre 2004er mittels einer Satzungserweiterung eröffnete Sektion Jiu-Jitsu innerhalb des Ju-Jutsu-Verbandes findet bis heute allerdings keinen nennenswerten Zulauf.

Jiu-Jitsu in Deutschland wird heute im Wesentlichen von drei Verbänden getragen: Durch den nach wie vor mitgliederstärksten Verband Deutsche Jiu-Jitsu-Union (DJJU) mit inzwischen bundesweit 14 Landesverbänden sowie die beiden traditionsreichen Verbände Deutscher Jiu-Jitsu-Bund (DJJB) und Deutscher Jiu-Jitsu-Ring (DJJR). Diese Verbände pflegen verschiedentlich fruchtbaren Austausch miteinander; so gibt es unter anderem in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz enge Kooperationsabkommen zwischen den Landesverbänden der DJJU und des DJJB, die insbesondere in den Bereichen des Lehrgangswesen und der Übungsleiterausbildung allen Jiu-Jitsuka zugute kommen.